Der Enkel der heiligen Verena
Lorenz Stäger, Wohlen
Jüngst habe ich aus Ägypten einen Brief erhalten. Eine Frau, mit der ich vor einigen Monaten in der Nähe der oberägyptischen Stadt Assiut ein paar kurze Worte gewechselt hatte, schickte mir eine Kopie eines Artikels aus ihrer Lokalzeitung. Vielleicht hätte ich Interesse daran.
Zwar habe ich einmal Arabisch studiert, aber das sind doch zwanzig Jahre her. Immerhin war ich neugierig genug, um mit Hilfe des Wörterbuches sogleich den Titel zu übersetzen: "Eine kirchliche Delegation aus der Schweiz brachte die Reliquien einer Ägyptischen Heiligen an den Nil zurück."
Ägyptische Heilige in der Schweiz? Felix und Regula fielen mir ein, dann Ursus und Viktor. Ich sah den Text nach diesen Namen durch, die als sprachfremde Wörter unschwer zu finden sind, und stiess auf Verena. Ich stutzte: Ob dann auch unser aargauisches Zurzach ... ? Tatsächlich entdeckte ich es einige Zeilen weiter unten. Allerdings stand da lediglich "Zuzach", aber der Fehler war auf Grund der Eigenheiten der arabischen Schrift verzeihlich.
Verena, die Schutzheilige des Marktfleckens Zurzach, ist nach der Legende mit der thebäischen Legion um das Jahr 300 aus Oberägypten in unsere Gegend gekommen, zu einer Zeit, in der Ägypter und Schweizer römische Landsleute waren. Sie wird mit einem Kamm und einem Krüglein dargestellt, Zeichen ihrer Fürsorge für Arme und Kranke.
Als Aargauer kenne ich diese Legende seit meiner Schulzeit. Ich nahm sie damals zur Kenntnis wie die Addition und die Subtraktion. Was konnte schon ein wohlgenährter, wohlbehüteter Schweizer Schüler anfangen mit Begriffen wie "aussätzig", oder "Wunden salben" oder "Arme speisen" Heilige sind uns ohnehin fern.
Merkwürdig, dass ich ausgerechnet durch einen Brief aus Oberägypten daran erinnert wurde, und noch merkwürdiger schien mir der Anlass zu diesem Brief zu sein.
Ich hatte mit meiner Familie die Oasen in der Libyschen Wüste besucht. Bei Assiut kehrten wir an den Nil zurück und stellten unseren Camper auf den Parkplatz eines hoch über dem Tal gelegenen koptischen Klosters. Unser sechsjähriges Mädchen war krank, und trotz Medikamenten stieg das Fieber immer höher. Kranken Kindern gegenüber fühlt man sich hilflos; man hat sich als Erwachsener daran gewöhnt, Kindern in ihren kleinen Nöten meist schnell helfen zu können.
Die Nacht war sternenklar. Zu unseren Füssen schimmerten die kleinen Lichter eines koptischen Dorfes, in seiner Mitte zwei Kirchtürme mit Kreuzen aus Neonröhren. Gelegentlich drang Hundegebell durch die Stille herauf, in einem leerstehenden Gebäude knallte der Wind eine Tür gegen das Schloss. Dann wieder Ruhe, bis die Kleine im Fiebertraum schrie oder sich erbrach. Müde und zugleich nervlich gespannt sitzt man daneben, schlägt nach den sirrenden Mücken und versucht, mit vernünftiger Überlegung gegen quälende Gedanken anzugehen. Ich netze das Tüchlein, lege es wieder auf die glühende Stirn, messe einmal mehr das Fieber. 40,9 sind es jetzt. Ich bin beunruhigt, habe innerlich damit gerechnet, dass es zurückgegangen sei. "Dieses verdammte Hundegebell, die machen mich noch wahnsinnig." Soll ich mit dem Mädchen ins Spital nach Assiut fahren? Soll ich .... Draussen sind Schritte zu hören. Ein junger Mönch in einer schwarzbraunen Kutte, den Kopf von der Kapuze bedeckt, steht vor dem Wagen. Er habe uns hantieren hören, und er sei Arzt. Ob er uns helfen könne?
Am Morgen dann Sonne, Licht, das Fieber sinkend und wieder der Kuttenmönch, der zur Arztvisite Tee und Früchte brachte und uns einlud, bis zur Gesundung des Kindes im Kloster zu bleiben. Der verlängerte Aufenthalt führte zur Begegnung mit der Ägypterin, die zufällig das Kloster aufsuchte. Wir tauschten die Adressen, und so bin ich zum Verena-Artikel gekommen.
Seltsamerweise hatte ich den Mönch weder nach seinem Namen noch nach seiner Herkunft gefragt. Die Sechsjährige, die neben mir am Schreibtisch stand und sich nach dem Inhalt des Briefes erkundigte, meinte nach kurzem Nachdenken, vielleicht sei die heilige Verena dessen Grossmutter gewesen.
Schon wollte ich belehrend antworten, da hielt mich etwas in meinem Innern davon ab. Ich hatte plötzlich das Gefühl, dass die Vermutung der Kleinen der Wahrheit näher kam.