Hinweise zur Spiritualität

( verfasst von Dr. Gerhard Ruff )

Trösterin auf der Pilgerreise des Lebens

Schon die Adressatin der Verena-Vita, die sich aus dem Situation leicht bestimmen lässt, gibt einen ersten Hinweis auf die geistliche Kraft der Heiligen. Aus Intrigen und Missverständnissen heraus geht Kaiserin Richardis aufrecht und selbstbewusst ihren Weg des geistlichen Lebens. Hatto empfiehlt ihr Verena dabei als "Trösterin auf der Pilgerreise des Lebens".

Menschen in schwerem Schicksal, Alleinstehende, Heimatlose, Entwurzelte und Menschen mit zerbrochenen Beziehungen werden in Verena eine geistige Quelle finden. Bei der Aufgabe, den eigenen geistigen Weg zu gehen, ist Verena eine hilfreiche Begleiterin.

Beistand für "Schwestern und Brüder" - auf der Suche nach ihrem geistigen Leben

Die Lebensbeschreibung Hattos ist ausdrücklich "Schwestern und Brüdern" gewidmet, was sich zunächst als Hinweis auf das Zurzacher Doppelkloster von Männern und Frauen verstehen lässt.Heute kann diese Widmung auch darauf hin gelesen werden, dass die Verehrung der Hl. Verena weder auf Frauen oder Männer, noch auf eine Konfession oder Kirche eingeschränkt ist. Das Leben der Heiligen trug sich vor der Reformation und vor der Trennung der Ägyptischen Kirche im 5. Jahrhundert zu. Unterstützt wird diese Sicht durch die Tatsache, dass der vita prior eine bereits lange anhaltende Verehrung und gläubige Praxis vorausgehen.

Verena steht für die allen Menschen aufgegebene Suche nach einem zeitgemässen geistig-geistlichen Lebensentwurf und dessen Umsetzung im gelebten Leben.

Glaubende in schweren Zeiten

Die vita prior lässt Verena aus städtischem Geschlecht in Theben stammen. Wurde sie tatsächlich von Bischof Chaeremon von Nilopolis getauft, so fand diese Taufe vor dem Jahr 250 statt. Viel wichtiger ist aber der Hinweis in der Vita, dass Verena zur Zeit der Verfolgung Chaeremons unter Diocletian nach Unterägypten geflohen sei. Während Chaeremon in die Berge flieht und dort umkommt, geht Verena den Strom abwärts und bringt mit sich ihre in Oberägypten geprägte damals "neue" Spiritualität. In der Vita sind die wesentlichen Elemente dieser Spiritualität angegeben: Fasten, Gebet und Psalmengesang. Gleiches wird von der Praxis der Wüstenväter in Südägypten berichtet. Zu diesen waren junge Männer - und wenige Frauen - in Scharen geflüchtet, und in einer Strafexepedition des römischen Reiches zurück in ihre Dörfer getrieben worden. Die Unbeugsamsten dieser jungen Christen wurden dem römischen Heer zur Disziplinierung eingereiht: unter anderem die sog. thebäische Legion mit den Freunden Verenas. Diesen folgt sie nach Unterägypten und nimmt ihr geistliches Lebensmodell mit. Ihr späteres Verhalten belegt, dass sie das Modell der Wüstenväter übernommen hatte und ihm treu geblieben ist.

Verena steht für die Treue einer Glaubenden zu sich und ihrem Lebensentwurf, zu ihren Freunden und dem Glauben an Christus. Sie hat ihren Glauben und ihre Praxis gefunden und hält diese auch unter extremen Belastungen durch. Dafür braucht sie keine Regel, wie die spätere Mänchsbewegung. Sie lebt das eremitische Ideal einer freien Christin, auch als sie später in ihrem Leben wieder Verfolgung erleidet.

Treue nicht Perfektion

Vom Aufenthalt Verenas in Mailand weiss die Vita kaum mehr, als dass sie sofort nach Agaunum eilt, als sie schlechte Nachrichten von ihren Gefährten erhält. In Mailand und später sucht sie die Nähe zu "heiligen" Personen und Märtyrern. Sie lebt nach dem Vorbild der Heiligen. Nicht Perfektion in der Nachfolge Christi, sondern die Treue zu ihrer christlichen Berufung und ihren Nächsten bestimmt ihr Handeln.

Verena vertritt ein sympathisches Lebensmodell ohne Überforderung. Trotz ihres eremitischen Lebens pflegt sie Beziehungen. Menschen, die heute in oder am Rand der christlichen Gemeinde ihren Weg suchen, finden in Verena eine Quelle der Inspiration.

In Beziehungen eigenständig Reifen

Die eremitische Bewegung und die Einrichtung der gottgeweihten Jungfrauen stellen zur Zeit Verenas neue Lebens- und Sozialformen des Glaubens dar. Für beide Formen gab es noch keine Regeln. Verena lebt selbst im fernen Solothurn ihre Lebensweise der Wüstenväter nach: in einer engen Höhle, mit Fasten und Beten, als Ratgeberin. Dabei versorgt sie sich mit ihrer Hände Arbeit und kann dies offensichtlich auch. Später wird sie durch diese Lebenstüchtigkeit Vorsteherin einer Gemeinschaft von Jungfrauen.

Verena steht für ein intensives Gebetsleben, das die Sorge um den Nächsten einschliesst. Sie ist in der Lage autonom zu leben und Verantwortung für eine Gemeinschaft zu übernehmen. Sie lässt andere an ihrem Leben teil haben und bleibt sich selbst treu. Menschen entwickeln sich in ihrer Nähe. In der Verbindung von Kontemplation und Caritas ist sie eine der ersten Gestalten, die darin das Modell der Wüstenväter erweitert.

Praxis statt Predigt

Die Heilungen Verenas, ihre Standhaftigkeit unter äusseren Anfeindungen rücken sie in die Nähe der Glaubenszeugen, der Märtyrer. Diese erscheinen ihr in der Verfolgung und ihrer Sterbestunde, um sie zu trösten. Die Alemannen bekehren sich durch ihr Vorbild zum Glauben an Christus. Der Gemeinschaft, der sie vorsteht, mangelt es auf wunderbare Weise nie am Nötigsten. Während die vita prior noch nichts über das Wirken in Zurzach weiss, erstreckt sich das Wirkungsgebiet der Heiligen in ihren letzten Jahren von Solothurn bis Zurzach. Die Heilige Verena steht für ein Leben, das Gebet und Lebenstüchtigkeit verbindet. Ihre Glaubensverkündigung geschieht durch ihr gelebtes Leben. Laut der vita überzeugt sie durch Güte - und vermag so auch die Angst vor dem geistigen Verhungern besänftigen.